Kaum vorstellbar, dass Frauen in der Schweiz erst seit 50 Jahren stimmberechtigt sind: Am 7. Februar 1971 haben die Schweizer Männer an der Urne der Verfassungsänderung zugestimmt, dass künftig alle Schweizerinnen die gleichen politischen Rechte wie sie haben sollen. 65,7 Prozent stimmten damals mit Ja, 34,2 mit Nein.
Die 47-jährige Alexandra Akeret wurde im Januar zur Stadtparlamentspräsidentin und damit zur höchsten Stadtsanktgallerin gewählt. Im Interview mit stgallen24 erklärt die SP-Politikerin und Feministin, warum die Schweiz noch einiges in Sachen Gleichstellung zu tun hat.
Alexandra Akeret, in wenigen Tagen gibt es das Frauenstimmrecht in der Schweiz seit 50 Jahren. Ein Grund zum Feiern?
Es gibt einen Grund, die Menschen zu feiern, die dafür gekämpft haben. Aber es gibt keinen Grund, das halbe Jahrhundert seither zu feiern. Ich finde es extrem peinlich, dass es in der Schweiz so lange gedauert hat. Da wurden Menschenrechte nicht eingehalten! Im Vergleich zu vielen anderen Ländern ist das ein Armutszeugnis.
Können Sie sich erklären, warum es so lange gedauert hat?
Das ist schwierig zu beantworten. Ich kann mir nur vorstellen, dass die Männer damals Angst vor Machtverlust hatten und davor, dass Frauen plötzlich auch mitreden können.
Dass Frauen für ihre Rechte auf die Strasse gehen, ist heute noch so. Sie waren beispielsweise am grossen Frauenstreik vor zwei Jahren. Wofür müssen wir heute kämpfen?
Für sehr vieles! Noch immer gibt es Lohnungleichheiten, Diskriminierungen von Frauen bei der Arbeitssuche, unterbezahltes Pflegepersonal und so weiter. Der Frauenstreik 2019 mit über 500.000 Teilnehmerinnen im ganzen Land war überwältigend. Ich kriege noch heute Gänsehaut, wenn ich daran denke.
Also hat die Schweiz noch einiges in Sachen Gleichstellung zu tun?
Es tut sich zwar etwas, aber fortschrittlich sind wir im Vergleich zu anderen Ländern nicht. Der Liberalismus steht über allem, und es herrscht eine fast schon panische Angst davor, jemanden etwas vorschreiben zu wollen. Alleine schon die Durchsetzung des Vaterschaftsurlaub war ein riesiger Kampf! Ich würde mir etwas mehr Willensstärke in der Schweiz wünschen, um solche Themen anzugehen.
Der VPOD ist die führende Gewerkschaft im öffentlichen Dienst. Dort engagieren Sie sich für Gleichstellung. Gab es einen Schlüsselmoment in Ihrem Leben, der Sie politisiert hat?
Ich hatte schon immer einen extremen Gerechtigkeitssinn; Ungerechtigkeiten machen mich regelrecht wahnsinnig. Deshalb liegt es in meinem Wesen, dass ich gar nicht anders kann, als mich dagegen einzusetzen. Auch in meiner Arbeit als Lehrerin hatte ich oft miterlebt, wie viel Ungerechtigkeit es schon im Kindesalter gibt.