Home Region Sport Schweiz/Ausland Rubriken Agenda
Kanton
05.02.2021
06.02.2021 14:06 Uhr

«Frauen müssen noch heute kämpfen»

 Stadtparlamentspräsidentin Alexandra Akeret (SP) setzt sich für Gleichstellung ein. (Bild: Tine Edel)
Stadtparlamentspräsidentin Alexandra Akeret (SP) setzt sich für Gleichstellung ein. (Bild: Tine Edel) Bild: zVg
Am 7. Februar jährt sich die Einführung des Frauenstimmrechts zum 50. Mal. Für die «höchste Stadtsanktgallerin» Alexandra Akeret ist das kein Grund zum Feiern.

Kaum vorstellbar, dass Frauen in der Schweiz erst seit 50 Jahren stimmberechtigt sind: Am 7. Februar 1971 haben die Schweizer Männer an der Urne der Verfassungsänderung zugestimmt, dass künftig alle Schweizerinnen die gleichen politischen Rechte wie sie haben sollen. 65,7 Prozent stimmten damals mit Ja, 34,2 mit Nein. 

Die 47-jährige Alexandra Akeret wurde im Januar zur Stadtparlamentspräsidentin und damit zur höchsten Stadtsanktgallerin gewählt. Im Interview mit stgallen24 erklärt die SP-Politikerin und Feministin, warum die Schweiz noch einiges in Sachen Gleichstellung zu tun hat.

Alexandra Akeret, in wenigen Tagen gibt es das Frauenstimmrecht in der Schweiz seit 50 Jahren. Ein Grund zum Feiern?

Es gibt einen Grund, die Menschen zu feiern, die dafür gekämpft haben. Aber es gibt keinen Grund, das halbe Jahrhundert seither zu feiern. Ich finde es extrem peinlich, dass es in der Schweiz so lange gedauert hat. Da wurden Menschenrechte nicht eingehalten! Im Vergleich zu vielen anderen Ländern ist das ein Armutszeugnis.

Können Sie sich erklären, warum es so lange gedauert hat?

Das ist schwierig zu beantworten. Ich kann mir nur vorstellen, dass die Männer damals Angst vor Machtverlust hatten und davor, dass Frauen plötzlich auch mitreden können.

Dass Frauen für ihre Rechte auf die Strasse gehen, ist heute noch so. Sie waren beispielsweise am grossen Frauenstreik vor zwei Jahren. Wofür müssen wir heute kämpfen?

Für sehr vieles! Noch immer gibt es Lohnungleichheiten, Diskriminierungen von Frauen bei der Arbeitssuche, unterbezahltes Pflegepersonal und so weiter. Der Frauenstreik 2019 mit über 500.000 Teilnehmerinnen im ganzen Land war überwältigend. Ich kriege noch heute Gänsehaut, wenn ich daran denke.

Also hat die Schweiz noch einiges in Sachen Gleichstellung zu tun?

Es tut sich zwar etwas, aber fortschrittlich sind wir im Vergleich zu anderen Ländern nicht. Der Liberalismus steht über allem, und es herrscht eine fast schon panische Angst davor, jemanden etwas vorschreiben zu wollen. Alleine schon die Durchsetzung des Vaterschaftsurlaub war ein riesiger Kampf! Ich würde mir etwas mehr Willensstärke in der Schweiz wünschen, um solche Themen anzugehen.

Der VPOD ist die führende Gewerkschaft im öffentlichen Dienst. Dort engagieren Sie sich für Gleichstellung. Gab es einen Schlüsselmoment in Ihrem Leben, der Sie politisiert hat?

Ich hatte schon immer einen extremen Gerechtigkeitssinn; Ungerechtigkeiten machen mich regelrecht wahnsinnig. Deshalb liegt es in meinem Wesen, dass ich gar nicht anders kann, als mich dagegen einzusetzen. Auch in meiner Arbeit als Lehrerin hatte ich oft miterlebt, wie viel Ungerechtigkeit es schon im Kindesalter gibt.

Maria Pappa und Alexandra Akeret vor ihrer Wahl im Januar. (Bild: Marco Dalmolin) Bild: zVg

Feminismus wird in manchen Kreisen negativ und mit «Männerfeindlichkeit» assoziiert. Wie gehen Sie damit um?

Als Feministin habe ich überhaupt nichts gegen Männer. Ganz im Gegenteil: Ich mag sie sehr, und es gibt ja auch Männer, die sagen, dass sie Feministen sind. Es ist wichtig zu verstehen, dass es Gleichstellung braucht und Männer auch dadurch gewinnen. Beispielsweise beim Thema Vaterschaftsurlaub: Durch Gleichstellung schaffen wir es, dass der Druck nicht immer auf den Männern liegt und sie die «Ernährer» sein müssen. Mit Gleichberechtigung wollen wir den Männern nicht irgendetwas wegnehmen; wir wollen, dass wir die gleichen Chancen haben. Etwa auf dem Arbeitsmarkt.

Haben wir das nicht?

Auf dem Stellenmarkt ist eine Frau einem Mann oftmals nur bis etwa 30 gleichgestellt. Danach fragen sich viele Arbeitgeber bei der Einstellung, ob die Frau vielleicht bald Mutter werden möchte und dann ausfällt. Erst wenn ein Mann zu gleichen Teilen ausfällt, wenn er Vater wird, wie eine Frau, die Mutter wird, wird es auf dem Arbeitsmarkt eine Gleichstellung geben. Dann kommt es nämlich für den Arbeitgeber nicht mehr drauf an, ob man eine 30-jährige Frau oder einen 30-jährigen Mann einstellt.

«Ich hatte schon immer einen extremen Gerechtigkeitssinn. Ungerechtigkeiten machen mich regelrecht wahnsinnig.»
Alexandra Akeret, Feministin

Sie wurden im Januar zu höchsten Stadtsanktgallerin gewählt. Was bedeutet ihnen das?

Eine grosse Ehre! Ich habe dem vor allem zugesagt, weil ich die vielen Vereine und Vereinigungen, die es in der Stadt St.Gallen gibt, besuchen wollte. Und weil ich Menschen eine Stimme geben möchte, die im Parlament keine haben. Aktuell liegt leider aber vieles auf Eis.

Wer sind diese Menschen?

Ich denke da an Jugendliche, die noch nicht 18 sind und leider noch nicht abstimmen dürfen, obwohl ich glaube, dass Junge politisch sehr motiviert sind. Dann denke ich da an alleinerziehende Mütter und Väter, an finanziell und zeitlich beschränkte Menschen, an Migranten und Migrantinnen, deren Stimme auch nicht gehört wird. Obwohl das so wichtig wäre für eine gelungene Integration! 

Mit Ihnen in diesem Amt und Maria Pappa als erste Stadtpräsidentin hat St.Gallen zwei starke Frauen an der Spitze. Trotzdem gibt es in der Schweiz noch eine klare Unterbesetzung von Frauen in der Politik.

Vieles hängt damit zusammen, dass wir keine weiblichen Vorbilder in der Politik hatten. Wie auch, wenn Frauen erst seit 50 Jahren abstimmen dürfen? Aber das ändert sich zum Glück jetzt. Ich sehe es bei meiner Tochter, die politisch sehr interessiert ist. Ihr kommt es gar nicht in den Sinn, warum sie es als Frau nicht sein sollte. Das macht mir Hoffnung.

Blicken wir 50 Jahre in die Zukunft. Wie wünschen Sie sich die Schweiz da?

Ich wünsche mir, dass wir dann absolute Gleichstellung haben, dass keine Unterschiede zwischen den Menschen gemacht werden – und dass alle ab 16 und egal mit welcher Herkunft abstimmen dürfen.

Linth24/stgallen24, Miryam Koc
Demnächst