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Kanton
30.09.2023
30.09.2023 00:16 Uhr

Parlamente nur Durchlauferhitzer?

Patrick Emmenegger (kl.) registriert eine zunehmende Tendenz zu Parlamentsrücktritten während der Legislatur – national, kantonal und kommunal.
Patrick Emmenegger (kl.) registriert eine zunehmende Tendenz zu Parlamentsrücktritten während der Legislatur – national, kantonal und kommunal. Bild: David Hugi
In drei Wochen wählt die Schweiz ihr neues Parlament. Doch wer gewählt wird, bleibt dem Volk immer seltener erhalten. Ein Gespräch über Gründe mit HSG-Professor Patrick Emmenegger.

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Patrick Emmenegger ist Professor für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Politikfeldanalyse und vergleichenden politischen Ökonomie an der Universität St.Gallen.

Patrick Emmenegger, ein Drittel des Wiler Stadtparlaments hat in der laufenden Legislatur das Amt niedergelegt. Bei der Mitte-Partei ist gar schon die Hälfte aller Köpfe neu. Diese Tendenz zeigt sich quer durch alle Räte und Kantone. Gibt es statistische Langzeitdaten oder Studien, die die Zunahme von Rücktritten innerhalb von Legislaturen in den letzten Jahren belegen?
Auf nationaler Ebene gibt es tatsächlich historische Zeitreihen, die diese Beobachtung bestätigen. Wir können eine klare, starke Tendenz zu einer Zunahme von Rücktritten von Volksvertretenden während den Legislaturperioden beobachten. In den Kantonen und Kommunen dürfte dies auch so sein, wobei die Datenlage hier etwas weniger gut ist.

Welche Faktoren haben Ihrer Meinung diese Zunahme beeinflusst?
Es lassen sich zwei Hauptfaktoren ins Feld führen. Auf der einen Seite verändern sich die Lebensumstände. Früher waren es vor allem ältere Herren, die ihre Positionen lange innehielten und teilweise im Amt verblieben, bis sie verstarben. Heute sehen wir glücklicherweise eine vielfältigere Gruppe von Politikerinnen und Politikern. Die meisten sind in anderen Lebensbereichen (beruflich wie privat) engagiert und regional sehr mobil. Diese komplexeren Lebensumstände machen es unter Umständen schwieriger, ein politisches Amt aufrechtzuerhalten. Das Parlamentarierdasein ist nicht eine Angelegenheit von ein paar Stunden pro Woche, sondern ein echter Knochenjob. Viele Menschen unterschätzen die Arbeitsbelastung, die mit einem Parlamentsmandat einhergeht.  

Auf der anderen Seite sind Rücktritte immer auch Gegenstand wahlstrategischer Überlegungen von Parteien. Erfahrene Politikerinnen und Politiker, die eigentlich am Ende einer Legislatur zurücktreten möchten, sollen noch einmal Stimmen für die Partei zu sammeln. Diese treten dann oftmals bereits früh in einer Legislatur zurück. Vorzeitige Rücktritte bieten den Nachfolgerinnen und Nachfolgern die Möglichkeit, sich zu präsentieren, ihre Bekanntheit zu erhöhen und bei den nächsten Wahlen als Bisherige anzutreten.

Besteht ein Zusammenhang zu den gesamthaft gesellschaftlichen Entwicklungen?
Ja, wie erwähnt sind gesellschaftliche Entwicklungen, darunter eine vielfältigere Zusammensetzung der Abgeordneten und veränderte Lebensumstände, massgeblich für die Zunahme von Rücktritten. Auch die veränderte Wahrnehmung politischer Ämter spielt eine Rolle. Solche Ämter haben heute weniger Prestige, insbesondere auf regionaler Ebene, was wiederum Einfluss auf die Bereitschaft zur Amtsausübung hat. Man darf auch nicht unterschätzen, dass solche Ämter eine gewisse psychische Robustheit erfordern, damit man mit der öffentlichen Meinung und möglichen Anfeindungen umgehen kann.

Haben diese vermehrten Rücktritte von Abgeordneten auf die Funktionsweise und Effektivität der Legislative einen Einfluss?
Ja, ich meine schon. Eine Faustregel besagt, dass rund 25% Erneuerung innerhalb einer Legislatur, also vorzeitige und reguläre Rücktritte sowie Nichtwiederwahlen, eine gute Balance zwischen Erneuerung und Kontinuität schaffen. Davon sind wir heute weit entfernt. Aber eine gewisse Kontinuität ist wichtig, um eine effiziente Zusammenarbeit mit der Verwaltung zu gewährleisten und langfristige Projekte erfolgreich voranzutreiben. Wenn über 50% der Volksvertretenden (wie immer häufiger feststellbar) während einer Legislaturperiode vorzeitig austreten, kann dies zu Problemen führen. Es braucht Zeit, um die Regeln, Beziehungen und das institutionelle Wissen zu erlernen und aufzubauen. Dies ist für eine erfolgreiche politische Arbeit jedoch erforderlich. Im Gegensatz dazu sind in Verwaltungen gerade auf Amtsleiterposition langjährige Mitarbeitende an der Arbeit, die politische Entscheide vorbereiten und beeinflussen können. Das Wissen, was über eine Zeitspanne von zehn Jahren in einem Politikfeld entschieden wurde, ist für die Entscheidungsfindung in der Legislatur von grosser Bedeutung. Die Macht der Verwaltung könnte zunehmen. Es ist darum wichtig, dass Volksvertreterinnen und Volksvertreter auf Augenhöhe mitdiskutieren können, was einen gewissen Erfahrungshorizont voraussetzt.

Inwieweit spielt Menge oder Komplexität von Geschäften in der Legislative eine Rolle bei der Entscheidung von Abgeordneten, zurückzutreten?
Die Menge und die Komplexität der politischen Geschäfte mögen gestiegen sein, aber ich glaube nicht, dass das die Zunahme der vorzeitigen Rücktritte erklären kann. Das ist in fast allen Lebensbereichen so. Die meisten Menschen können damit gut umgehen.

Welche Massnahmen könnten ergriffen werden, um die Rücktrittsrate in Legislaturen zu verringern oder deren Auswirkungen zu mildern?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um die Auswirkungen zu mildern. Die Parteien könnten ein Mentoring-System einführen, um neuen Abgeordneten einen besseren Einstieg zu ermöglichen. Fachgruppen in den Parteien könnten sich um spezifische Politikfelder kümmern und so institutionelles Wissen schaffen und eine bessere Unterstützung für die Volksvertreter bieten. Ähnlich wie bei einzelnen Parteien im Kantonsrat St.Gallen könnten Gremien ehemaliger Parlamentarier geschaffen werden, die aktuelle Projekte unterstützen und ihre Erfahrungen teilen.

Wie kann die Anzahl vorzeitiger Rücktritte verringert werden?
Das ist in erster Linie eine Frage des Wahlsystems. In England oder den USA gibt es Nachwahlen, wenn ein Abgeordneter zurücktritt, anstatt dass der Sitz automatisch bei der Partei bleibt. Das führt dazu, dass sich Abgeordnete oftmals noch auf dem Sterbebett an ihr politisches Amt klammern. Alternativ könnten freiwerdende Sitze bis zu den nächsten Wahlen vakant bleiben, was aber mittelfristig die Zusammensetzung des Parlaments stark verändern könnte. Weniger einschneidend wären Massnahmen, welche die Arbeit der Abgeordneten vereinfachen würden. Das betrifft Fragen wie die Unterstützung, den Sitzungsrhythmus, die Entschädigung oder Zusatzaufgaben.

Abschlussfrage: Wie beobachten Sie die Nationalratswahlen im Kanton St.Gallen resp. schweizweit?
Es lässt schweizweit eine massive Zunahme von Listenverbindungen beobachten. St.Gallen ist hier keine Ausnahme. Listenverbindungen haben einen grossen Einfluss darauf, wie Stimmanteile in Sitzanteile umgerechnet werden. Die Entwicklung der Grünen respektive Grünliberalen und die sich verschiebenden Kräfteverhältnisse im Ständerat, der in der Wahlberichterstattung meist weniger Aufmerksamkeit erhält, könnten die politische Landschaft in der Schweiz ebenfalls massgeblich beeinflussen.

Sprich …?
Im Kanton St.Gallen haben die Grünliberalen die Listenverbindung gewechselt. Sie sind jetzt im Boot mit der SP und den Grünen. Es ist im Moment schwer abzuschätzen, was mit diesem Sitz passiert. Auf nationaler Ebene flacht die grüne Welle wohl ab, und es ist denkbar, dass die FDP im Stöckli die stärkste Partei wird, während sie im Nationalrat von der Mitte überholt wird. Es wird spannend zu beobachten sein, wie sich diese Entwicklungen auf die politische Zukunft des Landes auswirken werden.

David Hugi, Wil24 / Linth24